
„Das Stimmband der Streicher“
Wie ein Cello klingt, liegt zu etwa 80 Prozent am Instrument selbst und am Musiker, der es spielt. Für die übrigen 20 Prozent spielen hochentwickelte Stahldrähte mit Kunststoffbeschichtung eine tragende Rolle: die Saiten. Text: Florian Zinnecker.

München, Herkulessaal, bis zum Konzert am Abend bleiben noch ein paar Stunden. Vorn auf dem Podium sitzt Jaka Stadler, das Cello zwischen den Knien, und schickt ein paar Töne in den Saal – eine improvisierte Elegie, eine Tonleiter in Variationen ohne Anfang und Ende, molto cantabile. Unten im Parkett sitzen die Kollegen und sprechen über den Klang wie über teuren Wein. Unter ihnen: Stefan Trauer, Mitglied im Orchester seit 1985 und Saitenbeauftragter der Cellogruppe. „Mit den Saiten ist es wie mit der Kleidung beim Menschen“, sagt er. „Man kann die Statur nicht wirklich verändern. Aber man kann ein paar Schwächen kaschieren.“ Und genau deshalb sind die Cellisten jetzt hier: zum Saiten anprobieren.
Neben Jaka Stadler auf dem Podium steht Thomas Zwieg, Chefentwickler bei Larsen Strings, einem dänischen Saitenhersteller, einem der wichtigsten weltweit. Zwieg ist promovierter Materialwissenschaftler, forschte über die Beschichtung der Brückenkabel über dem Großen Belt, danach spezialisierte er sich auf Streichersaiten. Eigens für die Anprobe ist Zwieg aus Dänemark nach München gekommen. Im Gepäck: alle Saiten aus dem Sortiment und auch ein paar, die es noch nicht gibt – Sonderanfertigungen für Musiker, Prototypen neuer Fabrikate. Wie ein Instrument klingt, sagt man, liegt zu 80 Prozent am Instrument selbst – und dem, der es spielt. Der Anteil der Saiten: Schwer zu sagen, aber nicht zu unterschätzen, sagt Stefan Trauer. „Man versucht mit den Saiten, die Defizite des Instruments auszugleichen“, meint Trauer. „Wenn ein Cello eine schwache C-Saite hat, kann man das mit gutem Material kompensieren, wenn die A-Saite sehr scharf ist, nehme ich Material, das weicher klingt.“ Deshalb der Termin hier und heute: kein Vertreterbesuch, sondern ein gemeinsames Ringen um die letzten, die entscheidenden 20 Prozent.
Die Schwäche im Cello von Jaka Stadler ist die A-Saite. Zu wenig Körper, zu wenig Bauch. „Mach mal die Saite runter“, sagt Zwieg. „Ich hab´was für dich.“
Bis ins 20. Jahrhundert hinein spielten die Musiker auf Saiten aus Schafsdarm. Der Klang: warm und rund, sonor – und im Vergleich zu heutigen Stahlsaiten schüchtern und zurückhaltend. „Aber natürlich hat sich die Klangvorstellung der Komponisten an dieser Farbe orientiert“, sagt Zwieg. „Allein deshalb kommen wir an der Tradition nicht vorbei.“ Verwendet werden Darmsaiten heute nur noch vereinzelt, „für den Massenmarkt ist es unmöglich, eine konstante Qualität zu garantieren“, sagt Zwieg. Moderne Saiten haben einen Kern aus Stahldraht oder synthetischen Fasern, manchmal geflochten zu einem feinen Zopf. Beschichtet und umsponnen sind sie mit synthetischen Kunststoffen und Metallen, etwa Wolfram. „Wolfram macht den Klang sehr brachial und bodenständig, mit einer wunderschönen Rauigkeit“, sagt Zwieg. „Kupfer macht den Klang sehr breit und weich, Nickel klingt strahlend, brillant. Silber bringt ein wunderschönes Strahlen, dann klingt die Geige buchstäblich: silbern.“

Die Wirbel krachen, als Jaka Stadler die neue Saite aufzieht, dann spielt er wieder seine Elegie. Nicken im Parkett. „Das blüht viel mehr“, sagt einer der Kollegen, „ja, das geht viel tiefer rein. Das Cello wirkt gleich viel größer.“ Zwieg macht sich Notizen, Stefan Trauer nimmt das Fabrikat in die nächste Bestellung auf. Saitenbeauftragter, das bedeutet: Er sorgt dafür, dass immer genug Saiten da sind, und zwar: genug für jeden. Jeder Musiker spielt andere Saiten, manche auch verschiedene Fabrikate auf demselben Instrument, gut möglich, dass einige davon Neuentwicklungen der Saitenmacher sind, die es noch nicht regulär zu kaufen gibt. Die Saiten liegen in einer Box, wer sich bedient, trägt sich in eine Strichliste ein. Ein vollständiger Satz kostet dreistellig, die dünnste Saite, das A, hält meist nur sechs Wochen, manchmal auch nur vier. Dann reißt sie zwar nicht, aber sie klingt nicht mehr ausgewogen, der Ton wird
immer schärfer.
„Wäre ich Solist, würde ich andere, härtere, durchsetzungsstärkere Saiten verwenden“, sagt Stefan Trauer. „In der Gruppe geht es mir darum, mich gut einzupassen und nicht herauszustechen.“ Er selbst ist heute nur beratend hier. „Ich spiele mein Cello seit 40 Jahren, in dieser Zeit habe ich sehr viel herumprobiert. Wenn man mal eine gute Lösung gefunden hat, bleibt man auch dabei.“ Es dauert ein paar Stunden, bis nach einem Saitenwechsel die Stimmung wieder stabil ist, klanglich manchmal auch Tage, das ist die Kehrseite. Es gibt deshalb keinen Grund, etwas zu ändern, wenn es nichts gibt, das unbedingt verbessert werden müsste.
Aber meistens gibt es das eben doch. „Wenn Sie im Orchester sitzen, wollen Sie nicht daran denken müssen: Jetzt muss ich gleich hier kompensieren, und um mehr Schärfe zu kriegen, muss ich mit dem Bogen dichter an den Steg“, sagt Zwieg. „Wenn alles stimmt und das Set-Up harmonisch abgestimmt ist, hat der Musiker Rücken und Kopf frei, sich auf das Stück zu konzentrieren.“
Um klangliche Schönheit geht es dabei nicht immer. Ein Cello muss auch die Aggressivität ausdrücken können, die in einer Schostakowitsch-Symphonie steckt, oder in Don Quixote von Richard Strauss. „Da sagen die Musiker, da muss Dreck drin sein“, erklärt Zwieg. „Man braucht auch im Klang eine Kante, an der man sich reiben kann – das ist die Stelle, an der die Kreativität entsteht. Wenn man immer nur von Schönheit umgeben ist, wird es schnell langweilig.“
Die Anprobe dauert bis in den späten Nachmittag, dann verabschiedet sich Zwieg in den Flieger nach Dänemark. Und die Cellisten ziehen sich zurück ins Stimmzimmer. Ein paar Stunden sind es noch, zum Ausloten, Nachstimmen, Einspielen. Damit dann im Konzert alles wieder klingt, als wäre nichts gewesen.

