Rasmus Peters
Kultur ist der Kompass im Sozialraum
Die kunstfreie Zeit der Corona-Pandemie hinterlässt Leerstellen. Im übertragenen Sinn verdeutlicht dieser Umstand den Kern unserer Existenz. Der Leere, dem Nichts zu begegnen, teilt die existenzialistische Idee mit der Kunst. Von der Kunst als Spiegel der individuellen Weltbeziehung erzählen die Gedankenskizzen von Rasmus Peters.
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Skizzen einer existenzialistischen Musikerfahrung
Wie trotz Pandemie ein Konzert veranstaltet werden kann, zeigte zu Ostern ein Pilotprojekt der Berliner Philharmoniker. Der Eingangsbereich der Philharmonie erinnerte leicht an ein Labor, in dem Menschen in weißen Schutzanzügen Stäbchen in Gläschen stippen. Ein negatives Testergebnis und der Besitz einer der raren Eintrittskarten eröffneten dann Einlass in den Großen Saal. Dort verfolgten tausend Augenpaare über weißen Mund-Nasen-Bedeckungen das Orchester. Die Masken verdeutlichten den Ausnahmezustand und verwoben die äußere Bedrohung mit dem musikalischen Erlebnis. In diesem Anblick vermischten sich Erinnerungen an Aufführungen vor der Pandemie und die Aussicht auf die Erlösung, endlich wieder Konzerte mit Publikum zu erleben. Die Verheißung von Normalität unter bedrückenden Bedingungen. Am Schluss rührte diese Spannung einige Zuschauer und Musiker sogar zu Tränen, zu Emotionen, die zeigten, wie tief die Beziehung zu Musik sein kann und wie verletzlich wir in dieser Beziehung sind. Was in Berlin zu beobachten war, war nicht nur ein Wiedersehen. Es war die Begegnung von Musikern und Publikum, Musik und Zuhörern unter außergewöhnlichen Umständen. Nicht zuletzt war es die Reaktion auf die Leerstelle, die die Schließung der kulturellen Veranstaltungsorte hinterlassen hat. Die Reaktionen auf das Osterkonzert zeigen unser Bedürfnis nach Resonanz, nach einer Beziehung zwischen uns und der Welt. Aus unseren Verhältnissen zu den Dingen bestimmen wir deren Bedeutung für uns. Musik selbst ist bedeutungslos. Doch unser Verhältnis zu ihr, geboren aus dem Spiel, das Unbestimmbare zu bestimmen, macht Musik zu einem geheimnisvollen Klangmedium. Wie es Karl Kraus formuliert: „Musik bespült die Gedankenküste. Nur wer kein Festland hat, wohnt in der Musik.“
Kunst und Mensch gestalten sich in ihre Freiheit
Das Bild der Gedankenküste zeigt, weshalb Kunst, und im Besonderen die Musik, kein kulturelles Beiwerk, sondern existenziell bedeutsam ist. Kunst spiegelt unser tief verwurzeltes Verhältnis zur Welt als etwas Unbestimmbares, das wir zu greifen versuchen, es aber nicht zu fassen kriegen. Die Kunst greift dieses Muster auf. Sie reflektiert unser Weltverhältnis und ist frei in ihrem Spiel mit Bedeutung und Symbolen. So dass Kunst wie die Welt nicht letztgültig bestimmbar ist und am Ende immer ein blinder Fleck bleibt. Dieser Fleck breitet sich in die Freiheit aus. An dieser Stelle treffen sich Kunst und Mensch:
Das Individuum entfaltet sich entlang seiner sinnlichen Wahrnehmungen und gründet daraus sein Verhältnis zur Welt. Aus dieser phänomenologischen Perspektive heraus formuliert Jean-Paul Sartre seine existenzialistische Theorie. Zu leben bedeutet, ständig zu entscheiden, immer wieder Unbekanntem zu begegnen, sich immer wieder orientieren zu müssen. Jedes Mal erscheint der blinde Fleck, das Nichts. Das ist die Freiheit. Für Sartre ist sie absolut, und er stellt sie vor jede Bestimmung. Vor jeder Entscheidung steht die Freiheit. Vor jedem Schritt nach vorne steht die Freiheit, zuerst einen Schritt zurück oder zur Seite zu gehen. So lange wir uns zu unserer Freiheit verhalten, verhalten wir uns ebenso zum Nichts, zur Leerstelle, die überhaupt erst Entwicklung ermöglicht. Deshalb, so Sartre, ist die Freiheit unterschiedslos zum Seinszustand des Menschen und der Mensch zur Freiheit „verurteilt“. Unsere Entwicklung, unsere individuelle Biographie, geschieht also in ständiger Beziehung zum Nichts. Die Existenz entfaltet sich in dieses Nichts. Es umfasst die Freiheit, die uns wie die leere Leinwand zur Gestaltung freisteht. Oder wie es Sartre formuliert: „Die Freiheit ist eben das Nichts, das […] die menschliche Realität zwingt, sich zu machen, anstatt zu sein.“
Jeder für sich versucht, im Schlamm eine Sandburg zu errichten, indem er Matsch in eine Form packt und umstülpt. Doch sobald er die Form abnimmt, zerläuft der Abguss, und die Konturen kehren zurück in den Morast. Also muss die Form darübergestülpt bleiben. Jeder Einzelne hält seine Form aufrecht. So verstanden ist Kunst eine existenzielle Äußerung des Individuums. Sie zeigt wie der Einzelne sich in die Formlosigkeit der Existenz hineingestaltet. Um das Bild von Karl Kraus wieder aufzunehmen: Die Gedankenküste konturiert das Festland. So vermögen wir es, uns zu orientieren und für uns die Bedeutung der Dinge in der Welt zu finden. Dieser Weg bildet die Konturen unseres eigenen Ichs. Innerhalb dieser Umrisse breitet sich der Raum aus, den das Ich bespielen kann. Das Spiel mit der Leere ist in uns angelegt.
Musik verhält sich zur Stille wie das Individuum zur Freiheit
An den Anfang von allem stellt die Quantenphysik eine Schwankung. Alle Größen vibrieren im Umfang einer winzigkleinsten Mindestwirkung. Im Rahmen dieser Energieschwankung könnte rein zufällig etwas mehr Energie als üblich durch ein Teilchen strömen, wodurch es in Materie und Antimaterie zerspringt. Hier fängt das Spiel der Bestimmung des Unbestimmbaren an, mit dem auch das Leben beginnt. Am Anfang war die Abweichung. Das Leben beginnt mit einer Abweichung, die es nur aufgrund einer unbekannten, nicht nachvollziehbaren Leerstelle gibt, die schon immer da war. Eine Leerstelle unseres Wissens, die wie die Stille vor der Musik steht. Musik verhält sich zur Stille wie das Individuum zur Freiheit. Sie sind beide gleichermaßen auf das Nichts angewiesen, um sich zu entfalten und über das Spiel mit der Leerstelle das Unbestimmbare zu bestimmen. Musik entwächst der Stille. Ohne die Stille kann das Geräusch und der Klang nicht existieren, wie es das Licht ohne das Dunkel nicht gäbe. Das ist kaum irgendwo so anschaulich wie im Schaffen des Komponisten John Cage. Es ist zwischen Nichts und Ewigkeit gespannt: In 4‘33“ verlangt er über die titelgebende Zeitspanne Schweigen über drei Sätze. ORGAN²/ASLSP wird derzeit mit einer Spieldauer von 639 Jahren in Halberstadt aufgeführt. Nimmt man die Anweisung wörtlich, das Stück so langsam wie möglich zu spielen, wird es genau genommen, ab dem ersten Akkord (es beginnt mit einer Pause) zu schnell aufgeführt. Cage komponiert Musik als einen Möglichkeitsraum, der bespielt werden muss, um erkannt zu werden. Anfang und Ende der Musik spielen im Freiraum des Nichts. Dieser Raum fängt nicht plötzlich an und hört nicht abrupt auf. Also müssen wir uns orientieren, um uns in ihm bewegen zu können. Dabei entstehen Fragen. Etwa, wo geschieht der Übergang von Geräusch zu Klang? Husten während einer klassischen Symphonie wird als Störgeräusch erkannt, während es in 4‘33“ Teil des Stückes wäre. Ähnlich verhält es sich mit Kompositionen für präpariertes Klavier, die die gängigen Klangfarben um Geräuschanteile erweitern oder diese gar ins Zentrum setzen. Die Grenzen der Musik sind unbestimmbar, aber im Spiel beginnen sie zu schimmern.
Der Konzertsaal als materialisierte Leerstelle
Im Konzertsaal wird ein Klangwerk in seiner Entstehung sichtbar. Der Saal ist die materialisierte Leerstelle für das musikalische Spiel. Er ist zugleich der Raum, in dem wir in die Musik einziehen, der Raum ohne Festland. Die Musiker spielen synchron, verbunden in Raum und Zeit. Angetrieben von einem unsichtbaren Herzschlag, betrachtet ein regungsloses Publikum, eingewoben in die Klangfülle mal kleiner, mal großer Bewegungen, wie Bögen über Saiten streichen und aufgeblähte Backen Luft durch Blechkörper blasen. Was klingt, ist die Schwingung der Saite, der Luftsäule, des Resonanzraums. Wie am Anfang aller Zeiten wird der Raum mit Schwingung gefüllt.
Die musikalische Erfahrung drängt uns einerseits, den rein akustischen Bereich zu verlassen, andererseits sämtliche außermusikalischen Vorstellungen musikalisch zu verstehen. Sinnliche Eindrücke und Empfindungen werden in Musik kodiert und Musik in Eindrücke und Empfindungen zurückübersetzt. Dieses Wechselspiel markiert die Leerstelle, den Zwischenraum zwischen Klang und Hörer, den ihre Begegnung zulässt und ausfüllt. In der Einordnung der Musik nach subjektiven Maßstäben vermengen sich Hörer und Musik. Hören ist ein aktiver Vorgang, in dem sich die Klänge mit der Biographie des Hörers als Summe seiner Erfahrungen verbinden. Auf diesem Weg wird ein objektives Geschehen zum subjektiven Erlebnis, und wir beginnen, die Musik zu bewohnen. Musikhören korrespondiert mit den Wahrnehmungskategorien individueller Ideale, Werte und Erlebnisse. Sie stellen die Werkzeuge des musikalischen Nachvollzugs, zu denen wir greifen, um die gebotenen Klänge zur Musik zu vervollständigen. Musik richtet sich an unsere innere Leere, die sich als individueller Resonanzraum darüberbreitet. Wir müssen sie als unvollständiges Symbol selbst vervollständigen. Damit gewährt sie uns die Freiheit, mit ihr machen zu können, was wir wollen. Musik transzendiert nicht den Hörer, vielmehr transzendiert der Hörer die Musik. Sie verpflichtet zu nichts, sie ist einfach nur da und schwingt in unserem eigenen Nichts. In der Musik begegnen wir uns selbst. Wie alle Kunst wurzelt Musik in unseren Sinnen, darin, wie wir versuchen über unsere Wahrnehmung einen Platz in der Welt zu finden.
Kultur ist der Kompass im Sozialraum
Die Leere und mit ihr die Kunst ist maximal freilassend. Um ihre Konturen zu bestimmen, muss sie bespielt werden. Ohne dieses Spiel mit dem Freiraum, dem Nichts, kann es keine Kunst geben. Und ohne dass sie praktiziert und erlebt wird, verblasst sie, verlässt die Köpfe und verkommt zum Ornament, zum Beiwerk eines starr verwalteten öffentlichen Lebens, das sich im Entsprechen vorgegebener Formen entlang bekannter Wege erschöpft. Ohne Begegnung mit der Kunst an den Orten, wo sie erlebbar ist, sind wir umgeben von den Pflichten und Notwendigkeiten des Alltags. Kultur bereitet den Boden, der Kunst zu begegnen. Kultur ist zugleich das Terrain, in dem der Lebensraum des individuellen Alltags liegt. Die üblichen Aufgaben in den gleichen Umgebungen bündeln sich zu einem privaten Biotop. Doch dieses Biotop liegt eben in einer Landschaft, die es umgibt und überhaupt erst die Voraussetzungen schafft. Kultur setzt den eigenen Lebensraum mit dem, was darüber hinaus geht, in Beziehung. Kultur ist der Kompass des Individuums im Sozialraum.

Die bisher stabilen Organisationsgefüge bröckeln unter Krisenbedingungen wie der Pandemie und werden verwundbarer. Die Zufälle der Welt verdeutlichen uns immer wieder, sie nicht gänzlich kontrollieren zu können. Letztlich ist es weniger der Lockdown als vielmehr das Virus, das zu wirtschaftlichen und kulturellen Schäden führt. Solche Zufälle wie jetzt das Virus zwingen uns immer wieder, einer Leerstelle zu begegnen, die wir bespielen müssen, um uns unter neuen Bedingungen zurechtzufinden. Und wir sind ganz und gar auf uns selbst gestellt. Es ist, als würden wir jedes Mal aufs Neue Malewitschs schwarzem Quadrat gegenüberstehen und vor der gleichzeitig vollen und leeren Leinwand irritiert bemerken, Nichts ist nicht die Abwesenheit von allem, sondern die Anwesenheit von Nichts.
Hierin erkennt sich der Einzelne vor dem Unbekannten, und er spielt, um sich zu orientieren. In diesen Momenten wächst und gedeiht eine Weltbeziehung. Ohne real vermittelte Kunst sehen wir uns gezwungen, uns in den bereits vermessenen Weltausschnitten unseres Alltags, der Politik oder der Wirtschaft zu verlaufen, weil der Blick für das Grundsätzliche fehlt. Erst im Angesicht der Leere werden Gedanken zur Ausrichtung des Selbst vor der eigenen Irritation notwendig. Erst wo Leere ist, ist Platz für Gedanken. In diesem Freiraum können sie sich einrichten. Wo diese Leerstelle fehlt, bleibt jede Entwicklung aus und Orientierung wird unmöglich. Somit ist auch kein Spiel möglich. Nur die Kunst versteht das Spiel mit der Leere. Nicht ohne Grund heißt es, Musik spielen. Sie trägt die Idee des Lebens selbst in sich.
Kunst vergegenwärtigt die Freiheit unserer Existenz
„[D]er Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt“, schreibt Friedrich Schiller. Das Spiel vervollständigt den Menschen nicht nur als Lebewesen, es markiert das Wesen seines Lebendigseins. Kunst setzt also an einem zentralen Punkt menschlichen Erlebens an. Die Leerstelle in unserem Verhältnis zu Kunst vergegenwärtigt die Freiheit unserer Existenz. Mit der Musik tauchen wir an den Grund dieser Erfahrung. Auf diesem Tauchgang streifen wir die Felsen und Riffs der Gedankenküste. Doch so lange die Konzertsäle geschlossenen bleiben, liegen wir eher schiffbrüchig und abgetrieben fernab, unwissend, wohin wir uns richten sollen, um sie wiederzufinden. Hinter den verschlossenen Türen der Museen, Theater und Konzertsäle bleibt nicht nur die Kunst verborgen, auch die Begegnung mit uns selbst.
Rasmus Peters studierte Musikwissenschaft und Philosophie in Wien und Bremen. Er hospitierte in der Programmheftradaktion des BRSO und veröffentlichte als freier Autor unter anderem im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.
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