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Jakub Hrůša
"Jetzt an sich zu zweifeln ist kein guter Zeitpunkt."
Mit Jakub Hrůša kehrt einer der renommiertesten Dirigenten der jüngeren Generation zum BRSO zurück. Ursprünglich geplant war Mahlers Dritte Symphonie mit anschließender Europa-Tournee – Pandemie-bedingt derzeit alles nicht möglich. Dennoch wird er am 14. Mai 2021 ein Konzert mit verändertem Programm in München dirigieren. Wir haben mit Jakub Hrůša im Vorfeld über sein Corona-Jahr, verpasste Chancen, und gute Bücher gesprochen.
Jakub Hrůša, Sie sind gerade noch in Prag, morgen werden Sie in München das BRSO dirigieren. Waren Sie in den letzten Wochen viel unterwegs?
Jakub Hrůša: Glücklicherweise fanden tatsächlich fast alle geplanten Konzerte statt! Vergangene Woche war ich bei meinem Orchester, den Bamberger Symphonikern, davor in der Tonhalle Zürich und bei der Tschechischen Philharmonie. Für mich gab es eigentlich nur dieses Jahr im März und April eine längere Lücke, in der ich weniger zu tun hatte. Das hatte mit den Corona-Vorschriften in Bayern zu tun: Die Konzerte, die ich in Bamberg hätte dirigieren sollen, mussten von mir wegen der geltenden Regulationen leider komplett abgesagt werden. Rückblickend betrachtet kann ich sagen, dass mein Konzertkalender im letzten Jahr nicht ganz so dicht war wie sonst, aber ich habe eigentlich nie aufgehört zu dirigieren. Unter diesem Gesichtspunkt war das Jahr mit der Pandemie für mich gar nicht so sehr anders. Aber die Art der Konzerte war natürlich komplett verschieden…
Bis heute, 10. Mai 2021, ist in Bayern nach wie vor kein Publikum zugelassen. In der Schweiz ist das ja schon anders…
Im Vorfeld gab es auch dort viele Diskussionen. Lange Zeit sah es so aus, also ab wir auch „nur“ ein Streamkonzert spielen. Am Ende war Publikum anwesend und wir haben – die Generalprobe mitgerechnet – fünf Konzerte mit jeweils 50 Personen gespielt. Und es war toll! Ich betone zwar immer, wie sehr ich es schätze, dass wir die Möglichkeit haben, Konzerte zu streamen. Die Tschechische Philharmonie zum Beispiel hat letztes Jahr viele Konzerte im Fernsehen übertragen und die Nutzung war wirklich überwältigend – auch bei eigentlich nicht so populären Programmen wie Elgar und Suk.
…vermutlich hätten Sie im Konzertsaal nicht so viele Leute erreicht wie vor den Bildschirmen!
Genau! Das ist wirklich fantastisch. Für mich ist das ein Signal, dass die Leute „ausgehungert“ nach Musik sind. Trotzdem: Eine Person live im Publikum ist genauso wertvoll wie 1000 Personen vor den Bildschirmen. Allerdings musste ich auch feststellen: 50 Personen in einem Saal wie der Tonhalle – das ist nicht genug. Diese besondere Konzertatmosphäre kann da noch nicht ganz entstehen. Aber es ist auf jeden Fall ein Hoffnungsschimmer.
Welchen Unterschied macht es konkret für Sie, vor einem Livepublikum zu spielen?
Ganz einfach: Es ist genauso, als ob man einen guten Freund live oder nur per Videokonferenz trifft. Oder ob man ein Gemälde im Museum oder nur digital sieht. Ich bin mir sehr bewusst, wie privilegiert wir sind, dass wir in diesen Zeiten dank der Technik weiterhin in Kontakt mit unserem Publikum bleiben konnten, und ich wünsche mir, dass das auch nach der Pandemie weiterhin der Fall sein wird. Aber die Live-Erfahrung muss trotzdem an erster Stelle stehen. Die Gemeinschaft, in der wir ein Konzert erleben, ist nicht zu ersetzen. Für mich war das ausschlaggebend für die Wahl meines Berufes: Ich wollte meine Liebe zur Musik mit andern Menschen teilen. Dieses gemeinsame Erleben – das ist virtuell nicht in gleicher Weise herzustellen.
Wie sehr haben im letzten Jahr die Reisebeschränkungen, Tests und Quarantänevorschriften Ihr Leben bestimmt?
Mittlerweile ist das ganze Testen und Ausfüllen der Formulare so selbstverständlich geworden wie Zähneputzen. Ich lebe mit meiner Frau und meinen beiden Kindern in London. Aufgrund der Quarantänevorschriften ist es natürlich komplizierter geworden, sie zu sehen. Insgesamt kann ich aber sagen, dass sich meine Aktivitäten im letzten Jahr auf Mitteleuropa beschränkt haben und ich die meisten Orte mit dem Auto erreichen konnte. Das hat mir eine gewisse Flexibilität erlaubt. Tourneen und Konzerte in Amerika und Asien wurden natürlich komplett abgesagt, was sehr schade war, denn ich hätte in New York an der Metropolitan Opera mein Debüt mit „Rusalka“ von Dvořák dirigiert…
Sie zählen zu den renommiertesten Dirigenten der jüngeren Generation und stehen gerade auf dem Höhepunkt Ihrer Karriere. Wie stark fühlen Sie sich denn durch die Pandemie ausgebremst?
Ganz klar, es gibt einige Dinge, die abgesagt wurden und die sich vermutlich auch nicht nachholen lassen, z.B. auch die Europatournee mit dem BRSO, die jetzt im Mai stattgefunden hätte. Das ist in der Tat eine Absage, die mich sehr traurig gemacht hat. Trotzdem müssen wir die Situation in einem größeren Kontext sehen: Ich denke, ich wäre erschüttert, wenn nur man selbst gestoppt worden wäre und alle anderen würden an einem vorbeilaufen. Aber diese Pandemie betrifft uns alle! Die ganze Gesellschaft wurde gebremst, und ich habe immer wieder versucht, das Beste daraus zu machen.
Wie sehen Sie die Problematik bei jungen KünstlerInnen, die gerade am Beginn ihrer Karriere stehen? Bei MusikerInnen, die bestens vorbereitet auf Probespiele nun seit einem Jahr in Warteposition sind…
Was für mich gilt, gilt auch für alle anderen: Keiner ist „der Verlierer“, die Pandemie hat uns alle getroffen. Wichtig ist es jetzt, wenn Probespiele usw. wieder losgehen, nicht zu glauben, andere seien in einer besseren Position! Jetzt an sich zu zweifeln ist kein guter Zeitpunkt.
Ich habe gelesen, dass Sie Buch führen über alle Ihre Auftritte, ist das richtig?
Ja, das stimmt, obwohl es kein Buch ist, sondern nur eine Datei im Computer! (lacht). Zu Beginn habe ich immer in die Partituren die Konzertdaten eingetragen. Ein paar Jahre später wurden es aber so viele Eintragungen und Partituren, dass ich den Überblick verloren habe. Deswegen habe ich mir die Mühe gemacht, alles noch einmal sauber in einem Computerprogramm zu dokumentieren. Etwa einmal pro Monat aktualisiere ich diese Liste…
Haben Sie dort auch die Konzerte eingetragen – die pandemiebedingt nicht stattgefunden haben?
Nein, das habe ich nicht gemacht. Es werden nur Konzerte eingetragen, die wirklich stattgefunden haben.
Sind Sie ansonsten auch ein Dokumentar? Schreiben Sie Tagebuch oder sammeln Dinge?
Eigentlich nicht. Ich liebe allerdings Bibliotheken und Bücher. Und manchmal bin ich frustriert, dass ich für die Lektüre nicht genug Zeit oder Konzentration habe, um bestimmte Bücher wirklich zu durchdringen. Deswegen habe ich eine neue Gewohnheit: Wenn ich alleine unterwegs bin, lese ich die Bücher laut und nehme mich dabei auf. Natürlich muss man erst mal seine eigene Stimme akzeptieren (lacht). Aber so kann ich mir die Aufnahme nochmals anhören, wenn ich z.B. mit dem Auto unterwegs bin. Ich stelle fest, dass es für mich einen großen Unterschied macht, Bücher auf diese Art zu erfassen und mehrmals zu „erleben“. Es ist wie mit einer Brahms-Symphonie: Die kann man auch ohne Probleme 20-mal hören!
Das ist eine sehr schöne Idee! Ich habe zwar schon für meine Kinder Bücher und Geschichten aufgenommen, aber noch nie für mich selbst…
Das war bei mir tatsächlich auch der Anfang. Da ich immer sehr viel unterwegs bin und oft abends zur Schlafenszeit nicht zu Hause bin, habe ich mir angewöhnt, Geschichten mit einem kleinen persönlichen Gruß aufzunehmen und meinen Kindern zum Frühstück zu schicken. Dann ist es wenigstens ein bisschen so, als würde ich mit am Tisch sitzen.
Haben Sie noch einen Lese-Tipp für uns? Ein Buch, das Sie neu oder wiederentdeckt haben?
Nicht lachen, aber ich lese „Die Brüder Karamasow“ von Dostojewski jetzt zum dritten Mal. Da nehme ich auch gerade ein Kapitel nach dem anderen auf. Und jetzt habe ich das Gefühl, es endlich richtig zu lesen. Das andere Buch ist „Doktor Faustus“ von Thomas Mann. Literatur ist für mich nicht nur Unterhaltung, sondern vor allem auch eine Bereicherung und Vertiefung des Lebens. Und dafür bin ich der Pandemie dankbar: Dass ich dazu in diesem Jahr mehr Zeit hatte.
Vielen Dank für das Gespräch, wir freuen uns sehr auf die kommende Konzertwoche mit Ihnen.
Das Gespräch führte Andrea Lauber.
Probenstreiflicht
„Die ganze Welt ist in dieser Symphonie!“ Wir waren bei der Probe von Brahms‘ 1. Symphonie am 11. Mai 2021 in der Philharmonie im Gasteig dabei.

Schlagwörter
Buch Dostojewski Brüder Karamasow Doktor Faustus Thomas Mann Bamberger Symphoniker Tschechische Philharmonie Streamkonzerte
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