TONLEITERN, DIE NACH GANZ OBEN FÜHREN

Deine wichtigste Lektion lernst du sehr früh, sie wird dich dein Leben lang begleiten: Es gibt immer jemanden, der besser spielt als du. Es wird aber auch immer jemand da sein, dem du überlegen bist. Vielleicht wächst du in eine Musikerfamilie hinein, vielleicht wirst du in einer Familie groß, in der du der oder die einzige bist, die Noten lesen kann. Vielleicht beginnst du erstmal mit Klavier und wechselst später zu deinem Instrument, vielleicht beginnst du auch gleich mit vier Jahren auf einer kleinen Geige. Das wichtigste ist, so oder so: Du fängst an. Und hörst nicht wieder auf. Dein erster Lehrer bringt dir die Technik bei, dein zweiter die Musik. So ist es nicht immer, aber meistens. Der oder die erste zeigt dir, wo welche Töne liegen und wie man es schafft, sie aus dem Instrument herauszukriegen. Der oder die zweite hilft dir, in dich hineinzuhorchen, wie die Stücke, die du spielst, deiner Ansicht nach klingen sollten – und das dann auch zu zeigen. Mehr ist es gar nicht. Wenn du das kannst, dann kannst du alles, das ist die ganze Kunst. Aber es bleibt eben eine Kunst. Für welche Lehrer du dich entscheidest, wann genau du von einem zum nächsten wechselst, wie gut dein Draht zu ihnen ist und wie groß dein Respekt – all das ist fast bedeutender als die Wahl deines Instruments. Ein Lehrer oder eine Lehrerin, der oder die nicht zu dir passt, kann sehr viel kaputt machen. Wenn es aber passt, dann legt er oder sie allein das Fundament deiner späteren Karriere.

Ob du überdurchschnittlich talentiert bist oder nur im Mittelmaß liegst, ist zunächst nicht so wichtig. Entscheidend ist: Was fängst du damit an? Ohne Zielstrebigkeit hilft dir dein Talent wenig, das ist eine weitere banale Lektion. Und hier kommt noch eine: Wer viel übt, hat bessere Chancen als jemand, der wenig übt. Du musst nicht genial sein, um Musikerin oder Musiker zu werden, aber fleißig sein, das musst du. Entscheidend sind Tugenden, die hart, glorios und pathetisch klingen: Fleiß. Disziplin. Zielstrebigkeit. Ausdauer. Und Mut. Fleiß schlägt Begabung, Faulheit kann Talent vernichten. So einfach ist das, brutal einfach. Aber du spürst, wie ernst es dir ist. Vielleicht haben dir deine Eltern abgeraten, weil sie selbst Musiker sind. Vielleicht haben sie dich auch nur gewarnt, dass du, wenn du Profi werden willst, sehr viel dafür tun musst. Und sehr viel bedeutet über weite Strecken hin: nichts anderes tun als das. Die wichtigsten Jahre sind zugleich die schwierigsten, weil in dieser Zeit auch sonst sehr viel in deinem Leben los ist. Du bemerkst, dass klassische Musik nicht so populär ist, wie du vielleicht dachtest, und dass es auch andere interessante Dinge gibt, außer Flöte, Geige, Cello zu üben. Aber genau die Jahre, in denen du 13, 14, 15 oder 16 bist, sind das Zeitfenster, in dem du dich entscheidend musst. Jetzt musst du arbeiten, jetzt entscheidet sich, ob es später reichen wird. Und das ist schwer, weil es bedeutet: stundenlang im Zimmer zu sitzen und zu üben, Tag für Tag, wie auf einer einsamen Insel, während um dich herum alle anderen ausgehen, Sport machen, Spaß haben. Das machst du manchmal auch, keine Frage. Aber du trägst auch Verantwortung, du arbeitest auf ein Ziel hin, von dem du noch gar nicht weißt, ob du es überhaupt erreichst. Einmal, vielleicht zweimal die Woche bist du für eine Stunde bei deinem Lehrer. Den Rest der Zeit arbeitest du allein. Du musst lernen, wie man übt, und üben, neue Stücke zu lernen. Und wenn du eine gute Lehrerin hast, dann gelingt es ihr, dass du von selber immer mehr willst. Das geht nicht mit Druck. Das klappt nur mit Sog. Das Selbstbewusstsein kommt nach und nach. Deine Lehrer haben dich am Anfang ein bisschen gepusht, schicken dich vielleicht zu »Jugend Musiziert«, du gewinnst, du trittst wieder an und gewinnst wieder, du spielst nicht mehr nur im Schulorchester, sondern auch im Landesjugendorchester – und spätestens hier erlebst du, wie einmalig es sich anfühlt, die Musik, die du aus den großen Konzerten und von Aufnahmen kennst, selbst zu spielen. Du hörst die Musik nicht nur von außen, du hörst sie jetzt in dir. Du lernst andere Musikerinnen und Musiker kennen, die so sind wie du: genauso selbstverständlich vernarrt in die Musik, und genauso hilflos, auf irgendeine andere Idee zu kommen als darauf, Musiker oder Musikerin zu werden. Klar, es wird hart, aber es geht nicht anders. Du siehst, dass du nicht allein bist. Und auch, dass du nichts Besonderes bist. Du lernst deinen Marktwert kennen, weißt genau, wie gut du bist, wer besser ist als du und: um wie viel besser. Jetzt lernst du die Lektion deines Lebens: Es gibt immer jemanden, der besser ist als du. Und es gibt immer jemanden, dem du überlegen bist. Aber das spielt keine Rolle, du hast dir längst angewöhnt, überkritisch mit dir zu sein. Und du übst, und übst, und übst. Und dann sagt deine Lehrerin, es wäre Zeit, mal einem Professor vorzuspielen. Das machst du. Und hoffst, dass die, die besser spielen als du, dann ja vielleicht gerade nicht da sind.