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Anne-Sophie Mutter
»Die Kunst kann nicht länger warten.«
„Wir können nicht länger warten. Die Kunst kann nicht länger warten.“ Vor einem Jahr, im März 2020, spielte das BRSO zusammen mit Anne-Sophie Mutter das letzte "normale" Konzert vor vollbesetztem Gasteig und vor dem ersten Lockdown. Ein Jahr danach hat Maximilian Maier mit Anne-Sophie Mutter gesprochen - darüber wie sie das letzte Jahr erlebt hat, aber auch über die aktuelle Situation der KünstlerInnen, die Versäumnisse der Politik und ihre Forderungen für die Kultur.
Das Interview mit Anne-Sophie Mutter, das Maximilian Maier telefonisch geführt hat, ist auch als Audio verfügbar.
Hören Sie hier den 1. Teil des Interviews:
Fortsetzung des Interviews:
Anne-Sophie Mutter, das letzte Mal haben wir vor etwas mehr als einem Jahr gesprochen. Sie haben das letzte Konzert des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks vor vollem Haus gespielt – Beethovens Violinkonzert in der Philharmonie im Gasteig. Das Beethoven-Jahr lag mit all seinen Veranstaltungen vermeintlich noch vor uns. Corona war schon Thema, wirkte aber noch nicht so bedrohlich. Haben Sie sich damals auch nur im Traum vorstellen können, wie lange und wie intensiv uns diese Pandemie beschäftigen wird?
In gewisser Weise hatte ich schon einen Teil des Beethoven-Jahres hinter mir – als ob ich es geahnt hätte. Im Winter 2019 habe ich meinen großen Beethoven-Zyklus in China begonnen – da gab es Corona dort schon. Aber offensichtlich habe ich mich da nicht angesteckt. Anschließend war ich in Europa und nochmals mit meinem Quartett in Japan. Als wir wieder in Frankfurt landeten, waren wir alle sehr erleichtert und wiegten uns in Sicherheit. Allerdings hatten wir große Empathie und Sorge um Japan und selbstverständlich auch China. Ich weiß nicht, warum wir in der Illusion lebten, hier keine Vorsichtsmaßnahmen oder Schutzmaßnahmen ergreifen zu müssen. Wie wir jetzt wissen, hätte das frühzeitige Tragen der Masken – man schaue nur in Richtung Taiwan oder Südkorea – vielleicht doch einiges verhindern können. Mitte März ist dann bei mir selbst Corona diagnostiziert worden, und kurz darauf wurde ein Konzert nach dem anderen abgesagt. Das hatte schon etwas sehr Apokalyptisches! Damals haben wir uns noch getröstet mit Aussagen wie „Wir kriegen das in den Griff. Wir bleiben jetzt alle zuhause und halten Abstand, und im Sommer wird das besser! Es wird hoffentlich ein Impfstoff gefunden werden, und dann sind wir aus dem Gröbsten raus.“ Aber nach dem Sommer lief dann eigentlich alles richtig schlecht. Von da an ging es nicht mehr wirklich aufwärts, weil man nicht kreativ, nicht schnell und nicht vorausschauend reagiert hat. Die dritte Welle, in der wir jetzt stecken, geht meiner Meinung nach auf das Konto der Politik, die alles verschlafen hat. Die überrascht zu sein scheint, dass Viren mutieren… Und was uns Künstler angeht, die scheinbar nicht systemrelevant sind: Gerade habe ich an unseren Ministerpräsidenten, an die Kanzlerin und an Frau Grütters geschrieben, um auf die Ungleichbehandlung zwischen Sportlern und reisenden Musikern hinzuweisen. Ich fordere darin, dass man uns Künstler von der Quarantänepflicht entbindet – dafür selbstverständlich gerne jeden Tag testet. Aber wir können unseren Beruf nicht ausüben, wir können auch kein Geld verdienen, wenn wir nicht reisen dürfen! Oder wenn das Reisen so gestaltet, ist, dass ich eigentlich permanent in Quarantäne bin, fünf Tage hier, zwei Wochen dort. Bei Sportlern geht das, kein Problem…

Ausschnitt aus Beethovens Violinkonzert mit Anne Sophie Mutter vom 7. März 2020 in der Philharmonie im Gasteig München. Leitung: Andrés Orozco-Estrada. Mehr Informationen zum Konzert und die gesamte Aufzeichnung finden Sie in unserem Konzertarchiv.
… die finanzieren sie aber auch selber. Sollte Ihrer Meinung nach politisch entschieden werden, dass Künstlerinnen und Künstler reisen dürfen? Oder sollten die Kosten für Tests dann auch staatlicherseits getragen werden?
Nein, um Gottes willen! Ich glaube, dass zwischen Veranstaltern und Künstlern eine Lösung gefunden werden kann. Es ist schließlich in beider Interesse, dass wir uns permanent testen. Außerdem kann man sich hier in Bayern, so wie in vielen anderen Bundesländern, kostenlos testen lassen. Ich habe damit beste Erfahrungen gemacht! Notfalls stehe ich auch gerne an der frischen Luft mit anderen netten, „bemaskten“ Leuten auf Abstand und warte bis ich drankomme. Das ist wirklich ein großartiges Angebot! Das Testen ist eines der wenigen Dinge, die uns meiner Meinung – zusammen mit der „luca-App“ – aus der Misere helfen können. Nur über konsequente Nachverfolgung, das Testen der Musiker und auch des Publikums können wir Sicherheit schaffen. Im Übrigen wird mit zunehmender „Durchimpfung“ der etwas älteren Mitbürger der Konzertsaal noch sicherer. Es gibt unglaublich viele aktuelle Studien, gerade wieder von der TU Berlin, die hochinteressant belegen, dass die Ansteckung im Konzertsaal verschwindend gering ist. Aber gut, darüber reden wir schon seit einem Jahr. Es fühlt sich an wie „täglich grüßt das Murmeltier“… Im Übrigen möchte ich zum wiederholten Male darauf hinweisen, dass die Kunstfreiheit in der Bayerischen Verfassung schrankenlos gewährleistet ist. Dieses totale Pauschalverbot ist verfassungsrechtlich nicht tragbar. Gartenmärkte, Baumärkte, Buchhandlungen: alles möglich mit Mindestabstand. Großartig! Warum dann aber nicht eine Kulturveranstaltung?
Deswegen soll ja jetzt auch geklagt werden. Christian Gerhaher und andere Kolleginnen und Kollegen haben sich stark gemacht und eine Klage auf den Weg gebracht…
Genau! Ich bin auch eine Klägerin…
Worauf bezieht sich das Versäumnis der Politiker, das Sie vorhin angesprochen haben? Woran machen Sie dieses „Verschlafen“ ganz konkret fest?
Ganz konkret: Dass bei der Beschaffung von Impfstoffen geschlafen wurde. Dass alles zu lange dauert. Dass man meint, mit Brotsamen die Solo-Selbstständigen irgendwie stillhalten zu können. Es ist das mangelnde Verständnis dafür, dass die Kunst eminent wichtig ist. Dass Musik in all ihren Sprachen ein Grundbedürfnis ist. Uns das wegzunehmen, ist schon ein großer Eingriff, der virologisch nicht notwendig war und ist. Und der zu anderen Schäden an der Seele führen kann. Wir sprechen immer nur von Corona! Ich finde das unsensibel und falsch. Als ob es keine anderen, tragischen, lebensbelastenden oder tödlichen Krankheiten gäbe, die sich durch den Fokus auf Corona verschlechtert haben. Bei Krebserkrankten ist es beispielsweise immer noch nicht selbstverständlich, dass sie mit als allererste geimpft werden. Aber eine Corona-Infektion mit dieser Gesundheitsbelastung durchstehen zu müssen, ist unzumutbar. Schon wieder ein Versagen. Aber das Allerschlimmste ist diese Ausschließlichkeit, mit der man auf die Zahlen starrt. Die Sterbezahlen gehen zurück, und wir wissen, dass mit der Impfung auch ein Stück Normalität zurückkommen wird. Aber wir können nicht länger warten. Die Kunst kann nicht länger warten. Wir Menschen können nicht länger weggesperrt, für unmündig und dumm verkauft werden. Wir gehen ja alle ein, seelisch und auch intellektuell.
Jetzt haben wir über viele Kritikpunkte auf Seiten der Politik gesprochen. Wie steht es denn mit Selbstkritik? Denn in dieser Pandemie zeigen sich auch gewisse systemimmanente Probleme, finde ich. In der Kulturwelt, aber gerade auch in der klassischen Musik. Vielleicht haben wir doch in einer etwas bequem gewordenen Blase gelebt? Sind wir vielleicht doch nicht so „systemrelevant“, wie wir lange dachten? Was muss sich Ihrer Meinung nach im System der klassischen Musik ändern?
Wir müssen uns organisieren! Es hat sich in der Vorbereitung der Klage gezeigt, dass es doch schwierig war, die Mitstreiter, die es potenziell gibt, auch zum Mitmachen zu motivieren. Ich glaube, nur als organisierter Körper können wir politisch genügend Druck ausüben, um sicherzustellen, dass wir bei der nächsten Krise nicht wieder abgetan werden. Als Einzelperson ist man natürlich nicht so stark, wie wir es gewesen wären, wenn sich alle Orchester, alle Opernhäuser usw. in Deutschland zusammengeschlossen hätten. Das ist uns leider nicht gelungen.
Arbeiten Sie daran, wie man so etwas auch in eine Körperschaft, in eine Art Gewerkschaft oder dergleichen überführen könnte?
Es gibt Kollegen, die daran arbeiten, und wir tauschen uns aus. Ich hoffe, dass wir nach der Pandemie nicht in die alten Verhaltensmuster zurückfallen und einfach hoffen, es läuft wieder alles. Wir müssen uns formieren, damit wir stärker werden. Wir haben ja keine Lobby, deswegen müssen wir selbst aktiver sein und aus unserem „lonely wolf“-Leben heraus auch andere Künstler wahrnehmen. Gerade auch die Freischaffenden. Wir sitzen ja alle in einem Boot. Ich hänge von dem Beleuchter genauso ab wie er von mir. Wir müssen uns alle zusammenschließen, damit wir als Interessengemeinschaft bei der nächsten Krise nicht wieder als allererste weggesperrt und als letzte wieder aufgemacht werden.
Sie mahnen seit Jahren, dass die musikalische Ausbildung und Erziehung in den Schulen immer mehr zu wünschen übrig lässt, dass die Beschäftigung mit Kunst und Kultur immer weiter an den Rand gedrängt wird und so an Bedeutung in der Gesellschaft verliert. Inwieweit sehen Sie sich im Umgang der Politik mit dieser Pandemie in Hinblick auf den Kulturbetrieb jetzt bestätigt?
Ich glaube, wir müssen unterscheiden zwischen der Bedeutung, die die Politik der Kunst beimisst, und jener, die wir tatsächlich in der Gesellschaft haben. Es scheint mir, dass kein Leben wirklich denkbar ist ohne Literatur, ohne Film, ohne Musik, in welcher Form auch immer. Auch ohne das Versinken in ein Bild. Man sieht ja bei der Warhol-Ausstellung, was es für einen Run gibt, wenn wieder offen ist, weil wir natürlich ein wahnsinniges Bedürfnis haben, uns in diese Insel einzuklicken, die so viel mehr bedeutet als eben nur das, was der Alltag uns an Arbeit, Konsum und Zerstreuung bietet.
Sie haben sich immer wieder öffentlich für den Konzertsaal im Werksviertel starkgemacht. Jetzt steht er wieder zur Diskussion und wird von verschiedenen Seiten auch ganz deutlich angegriffen. Einige preisen jetzt schon das Gasteig-Interim an der Isar als ausreichende Lösung an, ohne wirklich zu wissen, wie es klingen wird und wie zufriedenstellend dort die Infrastruktur etc. sein wird. Stehen sie nach wie vor dazu, dass München dieses neue Konzerthaus braucht?
Das ist natürlich nicht der richtige Moment, über den neuen Konzertsaal zu sprechen. Wir müssen erst einmal wieder aus dieser Krise herauskommen. Die Kunst muss wieder anlaufen, und wir müssen den Kollateralschaden betrachten. Diese Corona-Krise wütet ganz ungemein auch in den Ensembles, in den großen Orchestern. Und was in der Politik nicht verstanden wird, ist, dass es für ein Orchester oder ein Quartett, überhaupt für jeden Musiker im Verbund einer größeren Gruppe, ein Kollektivgedächtnis gibt. Das ist wie ein Baum. Wenn eine alte Eiche mal fällt, gut, dann pflanzt man eine neue. Aber die ist dann natürlich nicht in einem Jahr prachtvoll, sondern da muss erst wieder Aufbauarbeit geleistet werden. Was wir in den letzten zwölf Monaten verloren haben an Breite der Kultur, an einzelnen Musikern, an Ensembles, an Aufführungspraxis, die von Generation zu Generation, von Musiker zu Musiker weitervererbt wird, ist schon jetzt nicht mehr aufzuholen. Das ist nicht mehr einfach mit einem Schalter in das neue „Normal“ zurückzuholen. Da sehe ich mit großer Sorge eine Verknappung, eine Verschmälerung des Kunstangebotes auf uns zukommen. Das mag auch die bildende Kunst betreffen, aber auf jeden Fall uns Musiker. Um zu vermitteln, dass München einen adäquaten Konzertsaal braucht, muss man sich wieder neu sortieren. Der Interimssaal ist „j.w.d“, wie der Berliner sagen würde, „janz weit draußen“. Er ist offensichtlich auch zu klein, wie ich von Veranstaltern höre. Wenn man jetzt an die großen internationalen Orchester denkt, die ja hoffentlich irgendwann auch München wieder bereisen werden, ist das wirtschaftlich kein Modell, mit dem man leben kann. Ja, und es ist ein Interimssaal, genau das.
Und als solcher eben auch konzipiert, selbst wenn die Akustik von dem großen Akustiker Toyota stammt. Aber das macht es ja noch nicht automatisch zu einer dauerhaften Lösung.
Und Toyota favorisiert ja kleinere Konzertsäle.
Außerdem gibt es noch die Frage nach der Infrastruktur: Wie ist der Saal gelegen, wie ist er angebunden?
Katastrophal. Der Standort alleine ist schon ein Ausschlusskriterium, weil er verkehrstechnisch eben nicht gut angebunden ist. Das Werksviertel dagegen ist einfach wunderbar, mit den Hotels, Restaurants und Büros. Ich empfinde das als Zentrum der Stadt. Und die Verkehrsanbindung ist großartig. Egal ob man 15 ist, 55 oder noch älter, es ist absolut unproblematisch, diese Location zu erreichen. Und sie ist ja schon belebt. Ich bin dringend dafür, dass man diese Pläne verwirklicht. Aber im Moment ist es unsinnig, diese Diskussion zu führen, weil wir vorher den ersten Schritt zurück zur Normalität schaffen müssen. Und das heißt, erst einmal überhaupt wieder konzertieren, von mir aus mit dem Hut unter der Brücke (lacht). Wenn es so weitergeht, werde ich mit meinem Quartett bald mal irgendwo spielen. Aber braucht man da nicht eine Bewilligung?
Natürlich braucht man da eine Bewilligung. Frau Mutter, da kann ich nur sagen eingekastelt, und zwar recht schnell.
Also dann „Das Verhör“ nochmal, aber dieses Mal ernsthaft (lacht). (Anmerkung d.R.: Vor einigen Wochen war ASM zu Gast bei „Das Verhör“ in BR-KLASSIK)
Das „unter der Brücke“ haben Sie jetzt im Spaß gesagt. Aber Sie haben solche Projekte ja tatsächlich gemacht. Sie haben im Osten Deutschlands in Kirchen gespielt, für einen guten Zweck, weil es da erlaubt war. Glauben Sie, dass eine solche Entwicklung zum Regionaleren, ohne die vielen großen Reisen, diesen ganzen Klassik-Kosmos wieder etwas griffiger macht, auch persönlicher vielleicht? Kann das ein sinnvoller Weg sein?
Das eine schließt ja das andere nicht aus. Es ist ja nicht so, dass man sich New York Philharmonic nach München holt, weil man in München keine Top-Orchester hätte. Dieser rege Austausch, das Vorführen der anderen Spielkultur, ist eminent wichtig. Zunächst einmal, um sich inspirieren zu lassen, das betrifft natürlich ganz besonders uns Musiker. Aber es ist auch für das Publikum ein Riesen-Luxus, wenn man nicht nach New York fliegen muss, um New York Philharmonic zu erleben. Was ja aber nicht heißt, dass ich nicht auch meine lokalen Musiker hege und pflege. Und wenn wir die international reisenden Solisten und Ensembles mit den eher lokal tätigen Kollegen vergleichen, ist es leider so, dass letztere von der Pandemie sehr wahrscheinlich noch viel stärker betroffen sind. Von diesen Kollegen gibt es dann am Ende noch weniger. Das ist ja die große Tragödie. Wir können jetzt natürlich tönen und sagen: „Die lokalen Musiker müssen in den Mittelpunkt gerückt werden.“ Aber je kleiner der Radius ist, in dem du arbeiten kannst, umso empfindlicher trifft dich Corona auch. Da kannst du nicht sagen: „Okay, ich nehme halt die zwei Wochen Quarantäne auf mich und fliege jetzt mal nach Taiwan oder mache eine China-Reise.“
Frau Mutter, vielen Dank. Das war sehr feurig und leidenschaftlich und inhaltsvoll.
Also Letzteres wird die Klage auch sein, so wie eine Klage sein muss. Wir leben in einer Demokratie, und ich finde es wichtig, dass man sich austauscht und dass man aufbegehrt. „Aufstehen für die Kunst“ ist auf jeden Fall eine Bewegung, die richtig und überfällig ist. Und ich bin sehr froh, dass wir wunderbare Anwälte gefunden haben, die Musik und Kunst lieben und ihr feines Gespür für die Rechtslage in unseren Dienst stellen, bzw. in den Dienst der Kunst. Da Kunst für alle da ist, ist es für uns alle ein Gewinn, wenn wir uns mit ihr wieder umarmen dürfen – ganz keimfrei, ganz virenfrei. Eine musikalische Umarmung – ja, das wäre schön! Und, ich glaube, für alle ein Geschenk.
Das Gespräch führte Maximilian Maier
Schlagwörter
Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks BRSO Corona Konzert Pandemie Anne Sophie Mutter Politik
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